Vom ewigen Leben



Ich singe das Lied des Lebens,
wie Tausende vor mir
und Tausende nach mir.
Es ist eine Lüge zu sagen:
Leben ist Fluch,
den Tag zu verleumden
um seiner Nacht willen.
Wenn du einmal
aufgehoben wurdest
bis zum Gipfel der Liebe,
dann weißt du,
dass dort die Welt geheiligt liegt,
dass du dorther das große Ja
riefst, vergessend des geistigen Hochmuts,
dankbar wie das Tier,
wie die Pflanze,
lebend, liebend,
aufrecht, wie der Stamm,
der am Felsenhang noch,
ein Pfeiler, zum Lichte wächst.
Und sollt' ich es je,
zermürbt,
zerbrochen,
verfluchen, -
es war' eine Lüge.
Denn über allem Gram und Grauen
waltet unirrbar
ewiges Wachstum,
legionenweltig
auf jedem Geviertschuh
der aber und aber Legionen Welten.
Ich singe das Lied des Lebens
mit dem Vogel zu meinen Häupten,
und der Blume zu meinen Füßen
und dem Baum und dem Bach
und den Wolken und wehenden Winden, -
und es ist nicht mehr
als das Zirpen einer Grille, -
aber wir sollten es alle singen,
Millionen Menschen, Brüder und Schwestern,
an jedem Morgen,
dem Lichte zugewandt,
mit einer Seele,
unirrbar,
wie die Tanne,
die noch am Felsenhang,
kerzengerad,
zum Himmel emporwächst.

Christian Morgenstern

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