Vom ewigen Leben



Ich singe das Lied des Lebens,
wie Tausende vor mir
und Tausende nach mir.
Es ist eine Lüge zu sagen:
Leben ist Fluch,
den Tag zu verleumden
um seiner Nacht willen.
Wenn du einmal
aufgehoben wurdest
bis zum Gipfel der Liebe,
dann weißt du,
dass dort die Welt geheiligt liegt,
dass du dorther das große Ja
riefst, vergessend des geistigen Hochmuts,
dankbar wie das Tier,
wie die Pflanze,
lebend, liebend,
aufrecht, wie der Stamm,
der am Felsenhang noch,
ein Pfeiler, zum Lichte wächst.
Und sollt' ich es je,
zermürbt,
zerbrochen,
verfluchen, -
es war' eine Lüge.
Denn über allem Gram und Grauen
waltet unirrbar
ewiges Wachstum,
legionenweltig
auf jedem Geviertschuh
der aber und aber Legionen Welten.
Ich singe das Lied des Lebens
mit dem Vogel zu meinen Häupten,
und der Blume zu meinen Füßen
und dem Baum und dem Bach
und den Wolken und wehenden Winden, -
und es ist nicht mehr
als das Zirpen einer Grille, -
aber wir sollten es alle singen,
Millionen Menschen, Brüder und Schwestern,
an jedem Morgen,
dem Lichte zugewandt,
mit einer Seele,
unirrbar,
wie die Tanne,
die noch am Felsenhang,
kerzengerad,
zum Himmel emporwächst.

Christian Morgenstern

EINSAMKEIT


Gestern Nacht wünscht ich, du wärst bei mir gewesen -
aus Einsamkeit hab ich ein Buch gelesen,
von unsres Kaspar Hausers tiefem Seelenleid -
und von der Kraft in ihm, der Seele ohne Streit.
Da sah ich was mein eig'nes Leben hemmt -
was mich vom großen wahren Leben trennt:
Die Lust der Vielen, die im Innern streiten,
ein Kampf, wahrhaftig - noch aus alten Zeiten!
Ich fragte ihn: "Wie kann ich mich befrein?"
"Lern' lieben", sprach er, "Mensch lern' zu verzeih'n!
Der Streit gleicht einem tausendköpf'gen Drachen.
Ist's Außen still, so ist's der inn're Rachen.
Zum Fressen, ja, da ist er stets bereit,
und gut frißt er - ist unter Menschen Streit.
Wer den besiegt, der kennt die Ewigkeit -
Die Andern träumen nur und nennen es die Zeit!
Und du mußt einsam sein solang' du dies nicht fasst,
und mit dem Menschen noch die inn're Gottheit hasst.
Ewig vereint nur werden jene Menschen sein:
Die wahrhaft Liebenden - die stets aufs Neu' verzeihn!"

UND LEISE WEHT DER WIND


Ich kenne einen Blumengarten,
dort singen die bunten Vögel
im saftigen Grün der Bäume
Lieder von ewiger Schönheit -
und leise weht der Wind.
Die Kinder spielen vergnügt
im lauschigen Schatten der Bäume.
In ihren Augen träumen
unbekannte Sterne -
und leise weht der Wind.
Ein Blumenmeer fließt lächelnd 
durch die Wiesen,
und flüstert Märchen,
die kein Mensch gehört -
und leise weht der Wind.
Vom Brunnen tönt die Hirtenflöte
durch den Garten,
unsterblich sind die Weisen
die sie spielt -
und leise weht der Wind.

UMKEHR


Für alles Funkeln des Lichtes,
das dir die Gnade gegeben,
verbrachte ein andrer sein Leben 
länger in Dunkel und Nacht.
Blieb er nicht stehen für dich 
auf einst gemeinsamen Wegen,
dass Weisheit dir würde und Licht?
Ward dir denn alle Erleuchtung
Goldglanz im eigenen Hause?
Kehrtest nicht um du,
rufend, gegangene Wege,
suchend den Freund
und die Blüten der Liebe?
Mochtest du nicht 
ihn nun erst wirklich verstehn?

LEBENSWEGE


Manche wünschen sich schon, dass es einen "richtigen Weg" für alle gäbe. Der Gedanke, dass es so viele Wege wie Menschen gibt, bereitet ihnen Unbehagen. Dabei bewahrt uns gerade diese Einsicht davor, irgendeine Ideologie über den einzelnen Menschen zu stellen.

WIE KÖNNTE ICH?

Wie könnte ich dir Flügel geben, 
die nur die Liebe uns schenkt,
für den Flug deiner Sehnsucht in das Herz der Welt ?
Wie könnte ich dir Wurzeln geben, 
wenn ich einmal erkannte, dass jeder im anderen wurzelt, 
in der himmlischen Tiefe einer ewigen Erde?
Wie könnte ich dir Gründe zu bleiben geben, 
wenn ich sah, dass deine Freiheit wie der Wind ist, 
der immer weht, wann und wohin er will?