Wir sind Fremde
von Insel
zu Insel.
Aber am Mittag,
wenn uns das Meer
bis ins Bett steigt
und die Vergangenheit
wie Kielwasser
an unsern Fersen abläuft
und das tote Meerkraut am Strand
zu goldenen Bäumen wird,
dann hält uns kein Netz
der Erinnerung mehr,
wir gleiten
hinaus,
und die abgesteckten
Meerstraßen der Fischer
und die Tiefenkarten
gelten nicht
für uns.
Hilde Domin

BLÜTEN AUF WEITER FLUR


Die Jugend streut den Frühling aus,
Blüten auf weiter Flur -
das Alter sammelt in sein Haus
des Herbstes gold'ne Spur.
Die Jugend flicht das Sonnenlicht
zum Kranz, der wallend fließt -
das Alter sieht sein Angesicht
im Kreise, der sich schließt:
Im Blatt so welk, von rotem Gold,
der Linien zartes Spiel,
von Tränen, ach, und auch so hold,
der Blüten, o, so viel!
So liegt im Herz der Winterzeit
in stiller Lebensglut,
die Knospe noch, der Ewigkeit -
brausender Jugend Blut!
So reiftet sie, man glaubt es kaum,
auf totgeglaubter Spur,
gestaltend sich zum Lebensbaum,
Blüten auf weiter Flur -

Herbst


Der Sonnenstrom, der alles Leben tränkte,
ergab sich still in jedes grüne Blatt,
bis auch der Herbst sich dieser Erde schenkte,
wie sich der Sommer hingegeben hat.
"O Herbst, du gehst in flammendroten Farben,
im sehnsuchtsvollen märchenhaften Kleid,
und in den Scheunen träumen goldne Garben
vom Frühling und dem Anbeginn der Zeit!"
So ist wohl auch des Menschen ganzes Leben
ein Gang über die weite Sternenflur,
Frühling und Sommer all auf seinen Wegen,
von Herbstlichtrot flammt seine Opferspur.
Ist alles Opfer nicht ein Früchtereifen,
reift nicht die Himmelsfrucht der Erdenzeit?
So will der Geist diese Natur begreifen
als Gleichnis seiner eignen Ewigkeit:
"Du hast dich an das Leben hingegeben,
der Sommer zog in deine Seele ein,
ein Gral von Gold aus lauter Sternensegen -
so kannst du auch im Winter Sonne sein!"